Nationalrat hat kalte Füsse bekommen

Nationalrat hat kalte Füsse bekommen

Das Parlament muss sich auch künftig nicht an die Bundesverfassung halten. Der Nationalrat hat gestern Abend einen anderslautenden Vorschlag für Bundesgesetze im Einklang mit der Verfassung abgelehnt. Die „Verfassungsgerichtsbarkeit light“ geht zurück auf eine parlamentarische Initiative von EVP-Präsident Heiner Studer.

 

Der Nationalrat will sich weiter über die Verfassung hinwegsetzen können. Er hat gestern Abend einen Vorschlag seiner Rechtskommission abgelehnt, wonach auch Bundesgesetze im Einklang mit der Verfassung hätten stehen müssen. Heute geniessen Bundesgesetze eine Sonderstellung und sind im Konfliktfall massgebend vor der Verfassung (BV Art. 190). Die Rechtskommission wollte diese Ausnahme aufheben. Damit hätten künftig auch Bundesgesetze bei der Anwendung im konkreten Fall auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung überprüft werden können – so wie es heute bereits bei den Verordnungen des Bundes und kantonalen Erlassen der Fall ist. „Der Vorschlag hätte einzig erreichen wollen, dass sich auch das Parlament an die Bundesverfassung halten muss“, bedauert EVP-Präsident Heiner Studer den Entscheid. Vor Jahresfrist hat der Nationalrat der Vorlage noch zugestimmt. Weil der Ständerat Nichteintreten beschloss, ist das Geschäft nach der neuerlichen Ablehnung im Nationalrat definitiv vom Tisch.

 

Der Vorschlag geht zurück auf eine parlamentarische Initiative, welche der heutige EVP-Präsident Heiner Studer seinerzeit als Nationalrat eingereicht hat (05.445). „Das Parlament beschliesst zuweilen Gesetze, die verfassungsrechtlich nicht hundertprozentig wasserdicht sind. Es muss möglich sein, diese zu überprüfen“, begründet Heiner Studer seinen Vorschlag. Aufgrund von Artikel 190 der Bundesverfassung haben Bundesgesetze heute eine Sonderstellung und stehen quasi über der Verfassung. „Das ist doch ein Unsinn“, meint Heiner Studer: „Jedes neu gewählte Ratsmitglied schwört oder gelobt bei seinem Amtsantritt, die Verfassung und die Gesetze zu beachten und soll nachher als Mitglied des Parlamentes Gesetze beschliessen dürfen, welche gegen ebendiese Verfassung verstossen.“ Der EVP ist es ein Anliegen, dass das nationale Parlament keine Gesetze erlässt, welche im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen. Dies ist jedoch in der Vergangenheit vereinzelt vorgekommen, so beim Stammzellenforschungsgesetz oder auch bei der Unternehmenssteuerreform II durch die Bevorteilung der Grossaktionäre.

 

Die Kommission hätte keine neue Behörde schaffen wollen, welche wie in Deutschland ganze Gesetze hätte annullieren können. Anders als heute hätten Richter ein Bundesgesetz aber nur noch dann anwenden sollen, wenn sie darin keinen Widerspruch zur Verfassung erkennen. So wird es bei allen kantonalen Erlassen seit 1848 praktiziert – und die Behörden haben dieses Recht in der Vergangenheit keineswegs ausgenutzt und reihenweise Bestimmungen ausgehebelt. Chance verpasst – die Schweiz erhält vorerst kein Verfassungsgericht light. Das Parlament nimmt sich selber von der Verfassung aus.

 

Bern, den 4. Dezember 2012/nh