Der „Landschaftsfrass“: auch eine ethische Frage

Der „Landschaftsfrass“: auch eine ethische Frage

Ruedi Aeschbacher, Parteipräsident und Nationalrat, legt dar, weshalb er die Landschaftsinitiative aktiv unterstützt.

Jede Sekunde verschwindet in unserem Land knapp ein Quadratmeter Boden unter Strassen, Parkplätzen, Wohnhäusern, Geschäfts- und Industriebauten oder irgendwelchen anderen Anlagen. Pro Tag beläuft sich der Verlust an Grünflächen und Freiräumen auf eine Fläche von über 10 Fussballplätzen, pro Jahr auf eine Fläche von rund 30 km2.  Das entspricht der Oberflläche des Brienzersees. Oder zu einem mir näher liegenden Gewässer: In zwei Jahren wird in der Schweiz eine Fläche zugebaut, so gross wie der Zürichsee von Zürich bis Rapperswil. 

 

Der Verbrauch der nicht vermehrbaren Ressource Boden liegt im ohnehin schon stark besiedelten und überbauten Kanton Zürich sogar noch etwas über dem Landesdurchschnitt. Hier verschwinden allein schon in den Bauzonen 3 m2 pro Minute unter Asphalt und Beton (siehe den sehr instruktiven Zähler). Dazu kommen noch die Bodenverluste durch Verkehrsbauten sowie Gebäude und Anlagen, die ausserhalb von Bauzonen erstellt werden. 

 

Der unaufhörliche Landfrass ist besonders augenfällig im Mittelland: Die Siedlungen wachsen schrittweise zusammen. Die grünen Freiräume, bzw. Trenngürtel zwischen den Dörfern werden sukzessive von verschiedensten Bauten an- und langsam aufgefressen. Die Landschaft versinkt in einem Siedlungsbrei, verliert Qualität und Gesicht. Durch die Zersiedelung sind selbstverständlich auch die Naherholungsgebiete betroffen, die nicht nur für die Menschen in den dichter überbauten Regionen von grosser Bedeutung sind, sondern auch wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen darstellen. Der Wert und die Qualität solcher unüberbauten Räume für Mensch und Natur hängt von deren Grösse und Vernetzung untereinander ab. Unterschreiten sie eine gewisse Grösse und sind sie nicht mehr genügend miteinander verbunden, so entwerten sie sich ausserordentlich rasch. Und mit jedem zusätzlichen Eingriff geht überproportional Biodiversität verloren. Arten sterben aus, die roten Listen werden länger.

 

Nicht nur die Naherholungsgebiete in dichter besiedelten Räumen stehen unter grossem Druck. Auch vor gutem Ackerland machen Bagger und Betonmischer nicht Halt. Die Einzonungen und der Bodenfrass der letzten Jahrzehnte haben ja vor allem das Landwirtschaftsland betroffen. Im Kanton Zürich im Umfang von über 1,5 Millionen m2 , bzw. 150 ha pro Jahr.

 

Übrigens: nicht nur das Mittelland, auch etliche Tourismusregionen in den Alpen sind unter Druck. Hier zerstört die überbordende Bautätigkeit bald einmal ihre eigenen wirtschaftlichen Grundlagen, nämlich die intakte Landschaft.

 

Die Verbetonierung der nicht vermehrbaren Ressource Boden/Landschaft und Naturräume geschieht schleichend: da ein paar tausend Quadratmeter für eine neue Strasse, dort eine Hektare für ein regionales Getränke- und Auslieferungslager, hier ein paar Wohnblöcke in der vormals grünen Wiese. Darum verkennen wir oft die Bedeutung dieses Prozesses und das Ausmass, in dem sich das Gesicht unserer Landschaften verändert. Und wir nehmen auch den Qualitätsverlust nicht richtig wahr, weil er eben nur in kleinen und kleinsten Schrittchen, aber fortlaufend eintritt. Erst „Vorher-/Nachher-Bilder“ mit Zeitsprüngen von zwanzig oder dreissig Jahren vermögen uns die Augen zu öffnen und helfen uns erkennen, wie verheerend wir einer Entwicklung oft fast tatenlos zuschauen, die alles andere als gut und wünschenswert ist.

 

Für mich ist es auch eine ethische Frage, wie wir mit unserem Boden, unseren Landschaften unseren Naherholungs- und den Lebensräumen von Tieren und Pflanzen umgehen. Und welchen Lebensraum Schweiz wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen. Ganz sicher bin ich, dass wir unseren Boden in diesem Tempo nicht verbrauchen, unsere Landschaften und Naturräume so auf keinen Fall weiter zerstören dürfen. Auch wenn dafür oft das grosse Geld, die Ansiedelung von Unternehmen sowie neue Arbeitsplätze locken (Extrembeispiel: „Galmiz“).

 

Darum habe ich aktiv mitgeholfen, die Eidgenössische Volksinitiative "Raum für Mensch und Natur (Landschaftsinitiative)" aufzugleisen und bin auch Mitglied des Initiativkomitees. Die Initiative will die Raumplanung auf eidgenössischer Ebene stärken und verlangt insbesondere, dass die Bauzonen in den nächsten 20 Jahren flächenmässig nicht erweitert werden dürfen.

 

Das bedeutet aber etwa gar nicht eine „Käseglocke“ über der Schweiz: Zum einen kann nämlich weiterhin eingezont werden, sofern bestehende Bauzonen andernorts im gleichen Umfang verkleinert werden. Und zum andern gibt es in den Dörfern und Städten unsers Landes nicht nur unternutzte Baugebiete mit ansehnlichen Reserven, sondern darüber hinaus noch völlig ungenutzte Bauzonen von insgesamt rund 60'000 Hektaren. Davon liegen etwa 4'000 Hektaren im Kanton Zürich, der jährlich Bauzonen von insgesamt rund 160 ha verbraucht.

 

Indem sich die Initiative nur gegen eine Erweiterung der heutigen Fläche der Bauzonen wendet und die bereits eingezonten, aber noch nicht genutzten Flächen nicht antastet, bleibt auf Jahrzehnte hinaus Platz genug für die Schaffung von Lebens- und Wohnraum für eine auch noch weiter wachsende Bevölkerung.

 

Ruedi Aeschbacher,

Nationalrat und Präsident der EVP Schweiz